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Tartu, Estland - Kulturhauptstadt 2024
Tartu 2024: Wo Wissenschaft auf Kultur trifft
Es wird ein aufregendes Jahr. Für Süd-Estland und für Tartu als Kulturhauptstadt 2024: Jetzt kann ganz Europa von der jungen Universitätsstadt lernen (jung an Einwohnern, die Uni gibt es dank König Gustav Adolf von Schweden schon seit 1632!), wie Wissenschaft zur Kultur eines Landes wird. Und wie man sie weiter entwickeln kann, zum Nutzen und Vergnügen aller. So wurde als Thema 2024 „Die Kunst des Überlebens“ (Arts of Survival) gewählt. "Die Kunst des Überlebens wird von verschiedenen Kulturbereichen interpretiert, von der Volks- und Esskultur bis hin zu Musik, Film und bildender Kunst", erklärte Kati Torp, künstlerische Leiterin von Tartu 2024.Estlands zweitgrößte Stadt mit etwa 100.000 Einwohnern, einst Hansestadt, eine wichtige Verbindung zwischen Westeuropa und Russland, wurde von finnisch-ugrischen Stämmen gegründet. In ihrer abwechslungsreichen Geschichte hieß sie Tharbatas, dann Jurjew, dann wieder Tharbatum, dann unter erneuter russischer Herrschaft 1893 nochmals Jurjew. Mit kurzem deutschem Zwischenspiel - ab 1890 bis 1918, als sie Dorpat hieß - erhielt sie, als Estland unabhängig wurde, den heutigen Namen Tartu. Was vom altestnischen Tarbata abgeleitet wird und Auerochse bedeutet.
Wissenschaft, der Stolz Estlands
Die alte Universität von Tartu, vom Zaren Alexander I. (mit deutschen Wurzeln) 1802 als Mittlerin zwischen russischer und deutscher Kultur umgestaltet, war die einzige deutschsprachige (!) Universität des Baltikums und die wichtigste Institution für den damaligen Freiheitskampf: Die heutigen estnischen Nationalfarben stammen von der Studentenverbindung „Verein Studierender Esten“. Und Studentenverbindungen prägen in Tartu noch heute das Stadtbild. Man ist stolz auf Bildung, auf moderne Forschungseinrichtungen und auf die enorm vielen wissenschaftlichen Veröffentlichungen an den Unis, die weltweit geschätzt und genützt werden. Nicht ohne Grund zeigt sich Estland mit seinen Schulleistungen (PISA) immer wieder vorbildlich.
Jetzt wird auch die Kunst und Kultur auf eine internationale Bühne gestellt: Tartu hat für 2024 etwa 350 Projekte geplant und mehr als 1000 verschiedene Veranstaltungen dazu organisiert. Vom Massenküssen-Event bis zu gemeinsamem Singen und Tanzen am Ufer des Emajögi mit Orchesterbegleitung, ganz nach dem Motto des Jahres „Let’s meet, dance and have fun“. Von Filmmusik-Workshops internationaler Komponisten bis zu Zeitreisen in das Tartu 2074: Dahin will die englische Künstlergruppe „Blast Theory“ führen, die mit Esten aus der Südregion „The Unstruck Sound“ schaffen will, eine Utopie oder Dystopie der Gesellschaft in 50 Jahren.
Und man kann im Tartu Observatoorium Blicke in ferne Galaxien werfen, dort die Ausstellung der Gewinner einer Astrophotograph-Competition besuchen. Das Observatorium, ein bekanntes Forschungszentrum, wurde 1963 etwa 20 km außerhalb der Stadt neu errichtet und ist Mitglied der Space Agency und Teil eines weltumspannenden Beobachtungsnetzes der Erde und des Weltraums. Das alte Observatorium, ein Denkmal für viele wichtige Astronomen, die hier einst den Blick auf die Welt und das Universum veränderten, wird heute als Museum genützt.
Es steht in einem Park mitten in der Stadt, wie übrigens auch die riesigen alten Backstein-Gemäuer der gotischen Domkirche aus dem 13. Jhdt., im 16. Jahrhundert zerstört. Ein Teil wurde als Universitäts-Museum renoviert, wo man die Geschichte Tartus zeigt. Am anderen Ende des Parks, am Pirogov-Platz, darf übrigens – eine offizielle Ausnahme – Bier getrunken werden, eine Errungenschaft der Studentenverbindungen.
Aufführungen und Ausstellungen, oft interaktiv zu erleben
Natürlich ist auch das Theater vertreten, mit dem Stück „Business as Usual“, das einen estnischen Bankskandal aufarbeitet. Kunst-Installationen in den mystischen Mooren nahe Otepää, zeigen unter dem Titel „Wild Bits“ Arbeiten bekannter und noch zu entdeckender Künstler, vom Windradio bis zu Wald-Parfümeuren, von Klang-Überraschungen bis zu schwimmenden Forschungslabors auf einem Waldsee. Und Museen lassen „alle Stückeln spielen“.
Eines davon ist das wunderbare Estonian National Museum, auf dem ehemaligen Militärflugplatz 2016 in Form einer riesigen Abflugrampe erbaut: Man nennt es eine „...eindrückliche architektonische Geste, die zeigen soll, wie Estland nach Ende der sowjetischen Vorherrschaft durchgestartet ist“. Nicht alle Estonier waren damals darüber glücklich, heute sind sie begeistert, das Museumsareal (wo auch ein auf den Kopf gestelltes Haus zu besuchen ist) eine Besucher-Ikone. Besonders interessant und witzig verspricht die Ausstellung „Washing Machine Made of Beetroot“ zu werden, die zeigt, wie einfallsreich man ist, wenn improvisiert werden muss, wie einst zu Sowjetzeiten. Zu sehen im Road Museum, im City Museum und im Agricultural Museum.
Wo Rauch ist – ist auch Sauna
Natürlich fehlt auch nicht die „wichtigste“ Erfindung und Errungenschaft Estlands (was immer die Finnen behaupten mögen), die Rauchsauna. Die kann man selbst in den berühmten Rauchhütten (eigentlich zum Räuchern von Fleisch erbaut) in ganz Estland erleben, unter dem Titel „Naked Truth“ werden Diskussionen in Saunas veranstaltet. Wie das vor sich gehen kann, zeigt der Film „Smoke Sauna Sisterhood“, der beim Sundance Film Festival 2023 den Regiepreis ergatterte. Und wer es schafft, am 24. August in Tartu zu sein, erlebt uralte Rituale der finnisch-ugrischen Vergangenheit, Phantome, Elfen und phantastische Kreaturen in den Wäldern von Kubja, südlich von Tartu.
Wer also 2024 Ungewöhnliches erleben will, sollte unbedingt Tartu einplanen. Selbst wenn Ischl und Bodø (Norwegen), die beiden anderen Kulturhauptstädte 2024, vielleicht besser zu erreichen sind – jetzt bietet sich die ideale Gelegenheit, ein besonders sympathisches, innovatives (das Programm Skype wurde hier mitentwickelt, W-Lan ist überall seit Jahren selbstverständlich), tapferes, bildungsbegeistertes Land kennen zu lernen. Und eine kleine Stadt mit großen Ambitionen, hübschen alten Holzhäusern, Parks, Graffiti, uralten Kirchen, viel Natur rundum (mit Wanderungen auf Stegen durch Hochmoore), viel Kultur und viel Vertrauen in die Zukunft.
Weitere Informationen:
Alles über die vielen verschiedenen Programme, wo und wie sie stattfinden, erfährt man hier:
https://www.visitestonia.com/de/
Ein besonders netter Estonier, der eng in die Pläne für 2024 involviert war und gerne Auskünfte über sein Land und seine Stadt Tartu gibt, auch Führungen macht und einen besonders netten Entdeckungsplan von Tartu gezeichnet hat:
Kalle Paas: https://kallepaas.ee, Plan: https://www.howtotartu.ee
Ein nettes Hotel, gleich im Zentrum, modern und freundlich: Soho
https://www.hotellsoho.ee
Nicht weit entfernt das angesagte Restaurant Humal:
https://humalresto.ee/en/
Elegant und vom Michelin Guide 2023 als bestes Restaurant (des Baltikums?) empfohlen: Das Hõlm Restaurant
https://www.holmrestoran.ee/our-restaurant
Ebenfalls empfehlenswert, ein Kunst- und Weinlokal, den Dichtern Oscar Wilde und Eduard Vilde (sie sitzen in Bronze vor dem alten Backsteinhaus, eine ehemalige Druckerei) gewidmet: Vilde & Vine
https://vilde.ee/gb/
Die vielen kleinen Bars, oft in den oberen Stockwerken angesiedelt, sollte man selbst entdecken.
Ein Städtetipp von Elisabeth Hewson.
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