Wege zur Diagnose und wie man am besten damit umgeht.
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Wenn Nerven nerven
Wenn Nerven nerven
Auf kaum etwas trifft die Bezeichnung „notwendiges Übel“ mehr zu als auf den Schmerz. Wenngleich gefürchtet, ist er als Warnsignal unverzichtbar. Wird er allerdings chronisch, hat er seine ursprüngliche Funktion längst verloren und es gilt, ihn schnellstmöglich auszuschalten.Laut Werbeindustrie gibt es heutzutage gegen jede Schmerzform ein probates Mittel. Ob Kopfschmerzen, Magenkrämpfe oder Kniebeschwerden – unzählige Medikamente versprechen schnelle Abhilfe. Das hat sicher in vielen Fällen seine Berechtigung, trifft aber leider auf bestimmte Schmerzformen nicht zu.
Nerven als Schmerzauslöser
Seit Jahrzehnten wird der Nervenschmerz von Fachärzten für Plastische, Ästhetische und Rekonstruktive Chirurgie erforscht und behandelt. Bei ihm handelt es sich um eine Form des Schmerzes, die für Betroffene nicht selten unerträglich ist. Manche leiden permanent unter Schmerzen, andere zeitweise. Allen ist gemeinsam, dass sie davon befreit werden möchten.
Ausgehend vom peripheren Nervensystem, das aus Hirnnerven, Spinalnerven und peripheren Ganglien besteht und außerhalb des Schädels sowie des Wirbelkanals liegt, haben sie unterschiedlichste Facetten. „Meine Patienten berichten von brennenden, nadelstichartigen, plötzlich einschießenden oder kribbelnden Schmerzen, die unterschiedlich lang andauern und durch Berührungen, belastungsabhängig oder in Ruhe auftreten. Hinzu kommen meist Taubheitsgefühle und unangenehme Missempfindungen.“, berichtet der Wiener Nervenchirurg und Facharzt für Plastische Chirurgie, Dr. Veith Moser.
Gemeinsam mit seinen Kollegen Dr. Andrea Vass und Dr. Doris Lieba-Samal, zwei Neurologinnen, Dr. Gerd Bodner, seines Zeichens Radiologe und Experte für hochauflösende Sonographie, sowie dem Unfallchirurgen und Sporttraumatologen Dr. Arthur Schultz betreibt er das 1. Wiener Nervenschmerz Zentrum, das 2013 gegründet wurde. In diesem befasst man sich interdisziplinär mit Schmerzen, die durch eingeengte, eingewachsene, durchtrennte oder verletzte Nerven entstehen und versucht diese mittels Chirurgie sowie konservativer Maßnahmen zu eliminieren oder signifikant zu verbessern. Dr. Moser weiß: „Normalerweise dient unser peripheres Nervensystem auch der Schmerzweiterleitung ans Gehirn. Im Falle eines beleidigten bzw. versehrten Nervs gilt dieser als Verursacher des Schmerzes.“ Der Schmerz ist in diesen Fällen also nicht mehr Symptom, sondern kann als eigenständige Krankheit bezeichnet werden.
Geringste Einflüsse stören das perfekte Gleichgewicht
Das periphere Nervensystem ist zwar in verschiedene Bereiche unterteilt, besteht aber eigentlich aus einer einzigen Zelle, die sich wie ein verästeltes Stromnetz durch den gesamten Körper schlängelt. Kleinste Irritationen wie Einengungen können dafür sorgen, dass das System nicht mehr einwandfrei funktioniert. „Nerven verlaufen häufig an Stellen, die aufgrund ihrer Enge keinerlei Veränderungen zulassen.“, präzisiert Veith Moser. „Der Schienbeinnerv zum Beispiel teilt sich im Bereich des Innenknöchels mit der Schlagader und einigen Sehnen den Tarsaltunnel. Dieser ist vorne durch ein bandartiges Dach und hinten durch einen Knochen begrenzt. Wenn es in diesem Tunnel zur Abnahme des Durchmessers in Kombination mit einer Zunahme des Inhalts kommt, sprechen wir vom Tarsaltunnelsyndrom. Der die Fußsohle versorgende Nerv wird eingequetscht, kann nicht mehr richtig gleiten und verursacht, wie das Karpaltunnelsyndrom an der Hand, zahlreiche Beschwerden.“ In solch einem Fall ist eine Befreiung des Nervs unumgänglich, in anderen Fällen werden Nerven verlegt, durchtrennt oder rekonstruiert.
Nervenschmerzen können nach Operationen wie dem Einsetzen künstlicher Gelenke, Kaiserschnitt oder Leistenbruch, Unfällen, Sehnenscheidenentzündungen, Bänderrissen, Verstauchungen, Krebstherapien, durch zu enge Kleidung und aufgrund von Erkrankungen wie Diabetes sowie Amputationen auftreten. Ihnen liegen prinzipiell Probleme zugrunde, die der betroffene Nerv hat (dazu gehören Einengungen, Verletzungen oder eine Störung der Reizweiterleitung). Operationen sind an Füßen, Unterschenkeln, Händen, Knien, Ellbogen, Unterarmen, Armen, Gesäß, diversen Gelenken, der Leiste sowie am Kopf möglich.
Hoffnung für Patienten mit chronischer Migräne
Experten gehen davon aus, dass Migräne ebenfalls im Bereich Nervenschmerz zu verorten ist. Die Plastische Chirurgin und gebürtige Österreicherin Dr. Lisa Gfrerer erforscht gemeinsam mit einem Team an der Harvard Medical School in Boston Migränemechanismen sowie deren Therapiemöglichkeiten. Dazu zählt neben konservativen Behandlungsformen wie Botoxinjektionen oder Medikamenteneinnahme die Migräne-Operation. Im Rahmen des Eingriffs werden jene Nerven, die aus dem knöchernen Schädel austreten, am Hinterkopf, im Bereich der Augenbrauen oder der Schläfen befreit.
Dr. Gfrerer erläutert: „Es gibt Patienten, bei denen Nerven an verschiedenen Stellen des Kopfes zwischen Knochen, Muskel, Faszien etc. eingeklemmt sind. Diese Nerven werden durch das umliegende Gewebe gereizt und können eine Migräne auslösen. Wenn wir sie vom umliegenden Gewebe befreien, wird sie nicht mehr ausgelöst. Für uns gelten diese Nerven als Migräneauslöser, den wir ausschalten können.“ Allerdings ist mitnichten jeder Migräne-Patient für eine Operation geeignet. In Boston werden Menschen behandelt, die von sehr schwerer chronischer Migräne betroffen sind und von konservativen Maßnahmen nicht mehr profitieren können. „Wir möchten darauf hinweisen, dass der Auswahlprozess von Patienten extrem wichtig ist und direkt mit dem Erfolg der Operation zusammenhängt. Nur Patienten, bei denen Nerven eingeklemmt sind, sind gute Kandidaten.“, gibt Lisa Gfrerer zu bedenken. Dr. Veith Moser ergänzt: „Es handelt sich bei dem Eingriff um eine Rettungsoperation, die dann in Frage kommt, wenn alle Optionen ausgeschöpft sind.“
Diagnosestellung und Therapie
Während die Migräne sich relativ eindeutig diagnostizieren lässt, gestaltet sich der Prozess bei anderen Nervenschmerzformen oftmals schwierig. „Uns stehen neben dem ausführlichen Gespräch mit unseren Patienten der hochauflösende Ultraschall, die Nervenleitgeschwindigkeitsmessung sowie die Testblockade zur Verfügung.“, erklärt Veith Moser.
Des Weiteren gebe in manchen Fällen das Beklopfen des Nervenversorgungsgebietes Aufschluss, wenn der Patient dabei ein positives Hofman-Tinelsches Zeichen (elektrische Missempfindungen) aufweise. Zur Bestätigung der Diagnose wird den Patienten im Nervenschmerzzentrum ein Lokalanästhetikum injiziert, das der Eingriffssimulation dient und mit einer Spritze beim Zahnarzt vergleichbar ist. Laut Dr. Moser lässt sich damit „herausfinden, ob der Patient von einer Operation profitieren würde. Spricht er auf das Betäubungsmittel an, eignet er sich perfekt. Allerdings haben wir auch Fälle, in denen der Eingriff unnötig wird, weil die Patienten derartig von der Testblockade profitieren, dass lediglich eine regelmäßige Auffrischung vonnöten ist.“ Denervative Mikrochirurgie sei hochkomplex und gehöre in die Hände von Experten, die nur jene Betroffenen operieren, denen der Eingriff langfristig hilft.
Dr. A Lee Dellon, ein Plastischer Chirurg, der in den USA zwei Institute für Periphere Nervenchirurgie bzw. Denervative Mikrochirurgie betreibt, erforscht seit den 1980er Jahren das Phänomen Nervenschmerz. Er entwickelte zahlreiche Operationsmethoden und unterrichtet Mediziner aus aller Welt. Auch Veith Moser bildet sich regelmäßig bei ihm sowie anderen Experten weiter. „Ein verantwortungsvoller Umgang mit unseren Patienten, ständige Weiterentwicklung sowie die enge Zusammenarbeit verschiedener Fachbereiche gewährleisten im 1. Wiener Nervenschmerzzentrum beste Ergebnisse zum Wohle der Betroffenen.“, ist er sich sicher. Selbstverständlich müsse man immer bedenken, dass jede Operation mit Risiken verbunden ist und nicht jeder Nervenschmerzpatient sich für die von der Plastischen Chirurgie entwickelten Behandlungsmethoden eignet.
Wissenswertes
Seit 2008 werden am Massachusetts General Hospital in Zusammenarbeit mit der Harvard Medical School in Boston Migräne-Patienten operiert, wobei die Erfolgsquote sehr hoch ist.
„Wir haben seit 2008 hunderte Patienten gesehen und behandelt. In unserem Patientenkollektiv konnten wir zeigen, dass mehr als 90% der Betroffenen nach der Operation deutlich profitieren. 51% dieser Patienten haben langfristig keine Migräne postoperativ, 20% haben ihre Symptome deutlich verbessert. So hatten sie vor der OP 30 Mal im Monat Migräne, nach der OP zwischen 1 und 6 Mal. 30% verbessern sich zwischen 50 und 80% (zum Beispiel 30 Mal Migräne vor der OP, 7-15 Mal Migräne nach der OP).“ so Dr. Lisa Gfrerer, Dr. William Gerald Austen, Jr. und Team.
Nähere Informationen:
www.nervenschmerz.com
http://hms.harvard.edu/
Buchtipp:
„Pain Solutions“ von A Lee Dellon, MD, PhD, FACS, publiziert bei Lightning Source Inc (ISBN 988-1-60402-697-9) und online unter http://dellon.com/pain-solutions.html
Ein Gesundheitsbeitrag von Mag. Sonja Streit.
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