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Die eingeworfene Fensterscheibe

Ein Tipp des 55PLUS-Rechtsexperten RA Dr. Wolfgang Punz.
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Die eingeworfene Fensterscheibe


Ein Elternpaar hat ein Problem: ihr Sohn Thomas, 10 Jahre alt, hat gemeinsam mit seinem Freund Philipp, ebenfalls ein 10-jähriger Schüler, nach der Schule ein großes Schaufenster mit Steinen eingeworfen und ist dabei erwischt worden. Offenbar war es Absicht und kein Versehen, wer die Idee gehabt hat, lässt sich nicht mehr feststellen. Der Eigentümer verlangt nun von Thomas’ Eltern den Ersatz des gesamten Schadens, immerhin über 3.000 Euro! Ist das berechtigt?

Dieser Fall problematisiert die Frage der Deliktsfähigkeit.
Die Deliktsfähigkeit ist die "Fähigkeit", durch eigenes rechtswidriges und schuldhaftes Verhalten schadenersatzpflichtig zu werden.

Grundsätzlich sind Thomas und Philipp als 10-jährige unmündige Minderjährige (§ 21 Abs 2 ABGB).
Zur Erklärung der Begriffe:
„unmündige Minderjährige“: 7.-14. Lebensjahr
„mündige Minderjährige“: 15. -18. Lebensjahr
Somit wäre Georg und Gunter nach § 153 ABGB noch nicht deliktsfähig, sie können also grundsätzlich nicht für ihr Verhalten schadenersatzpflichtig werden, es gibt allerdings eine Ausnahme, dazu später.
Als erstes muss man prüfen, ob der Schadenersatzanspruch des Geschädigten wegen überwiegenden Eigenverschuldens schon von vornherein ausgeschlossen ist (§ 1308 ABGB), das wäre etwa, wenn dieser die Handlung provoziert hat. Dies ist hier nicht der Fall, damit können Georg und Gunter bzw. ihre Eltern unter Umständen schadenersatzpflichtig sein.

Die Eltern können schadenersatzpflichtig sein?
Ja. Nach § 1309 ABGB können aufsichtspflichtige Personen (Eltern, Lehrer, etc. ) schadenersatzpflichtig werden, wenn sie ihre Aufsichtspflicht schuldhaft verletzt haben. Hier kommen prinzipiell nur die Eltern der beiden Buben in Frage, den Lehrern obliegt eine derartige Verpflichtung nach Verlassen der Schule jedenfalls nicht. Aber auch die Eltern trifft angesichts der Umstände des Falles, insbesondere des Alters der Buben und der Tatsache, dass sie sich bloß am Heimweg von der Schule befanden, wohl keine Pflicht zur Beaufsichtigung ihrer Söhne mehr. Es liegt daher gar keine (schuldhafte) Aufsichtspflichtverletzung vor und es kann daher auch nicht zu einer Haftung der Eltern gemäß § 1309 ABGB kommen. Georgs Eltern sind daher rechtlich nicht verpflichtet, den Schaden zu bezahlen.


Wie ist die Aufsichtspflicht der Eltern?

Der Oberste Gerichtshof beurteilt das Ausmaß der elterlichen Aufsichtspflicht
nach § 1309 ABGB nicht generalisierend, sondern vielmehr danach, "was angesichts des Alters, der Eigenschaften, der Entwicklung des Kindes und der wirtschaftlichen Lage des Aufsichtsführenden von diesem vernünftigerweise verlangt werden kann".

Als Verletzung der Aufsichtspflicht wurde etwa eingestuft:
- die Erlaubnis zum Radfahren ohne für Beaufsichtigung zu sorgen
- einen 12-jährigen unbeaufsichtigt mit einem Luftdruckgewehr spielen lassen

Noch keine Verletzung der Aufsichtspflicht war:

- einen 12-jährigen unbeaufsichtigt mit einem Pfeil und Bogen spielen lassen, wenn dieser (laut Gericht) ansich folgsam ist und nicht zu erwarten ist, dass er woandershin als auf die Zielscheibe schießen wird
- das unbeaufsichtigte Spielen im Freien am Land, wenn nicht besondere Gefahrenmomente (befahrene Straße etc.) dazukommen

Es kommt aber wie gesagt immer auf den Einzelfall an, eine "Typisierung" der Fälle ist nicht möglich.

Bleibt der Ladeneigentümer jetzt übrig?

Wenn seine Versicherung nicht zahlt, hat er nur noch eine Möglichkeit.
Es ist nämlich noch zu prüfen, ob Thomas und Philipp nicht ungeachtet ihrer an sich fehlenden Deliktsfähigkeit ausnahmsweise doch gemäß § 1310 ABGB selbst zur Haftung herangezogen werden können. Da die beiden mit zehn Jahren jedenfalls wissen müssten, dass das Einwerfen von Fensterscheiben unrecht ist, und daher über ein ausreichendes Einsichtsvermögen verfügen, den eingetretenen Erfolg aber "aus Übermut" dennoch wollen, trifft sie beide wahrscheinlich ein sogenanntes "Quasiverschulden" iSd 1. Alternative des § 1310 ABGB.
Weil auch an den übrigen Voraussetzungen für einen deliktischen Schadenersatzanspruch gegeben sind, nämlich Vorliegen eines Schadens, Verursachung und Rechtswidrigkeit, wird eine "Billigkeitshaftung" der beiden nach § 1310 ABGB zutreffen.
"Billigkeitshaftung" heißt auch, dass der Richter den Schadenersatzbetrag zur Gänze oder aber nur zum Teil, quasi "ermäßigt" zusprechen kann. Die Mäßigung richtet sich nach dem grad des Verschuldens und seiner Einstufung durch den Richter.

Thomas und Philipp haften im übrigen mangels bestimmbarer Anteile solidarisch (§§ 1301 f ABGB), dh, jeder der beiden für den ganzen Schaden.

Der Eigentümer kann also theoretisch Thomas wegen Schadenersatz klagen (nicht aber seine Eltern), wenn auch das Gerichtsverfahren und vor allem die Durchsetzung des Urteiles sehr mühsam sind. Ein Urteil ist aber 30 Jahre lang vollstreckbar, der Eigentümer kann also von Thomas auch in 10 Jahren noch die Zahlung verlangen.
Unter diesen Umständen könnten Thomas’ Eltern lieber doch zumindest einen Teil zahlen (bei einer Klage käme ja wahrscheinlich auch nur ein Teil heraus).

Ein Tipp des 55PLUS-Rechtsexperten RA Dr. Wolfgang Punz.


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